Die anatomische Situation
Was ist das Problem bei der Bekämpfung der Parodontitis?
1) Im Microbiome (Bakterienwelt) der Mundhöhle des Menschen geht man zur Zeit von 706 verschiedenen Arten von Bakterien aus. So unterschiedlich findet man sie auch unterhalb des Zahnfleisches (subgingival genannt) in den durch Knochen und Wurzel gebildete Taschen der Zähne. Anfänglich spricht man eher von einer Gingivitis, später bei stärkerer Ausbildung der Erkrankung von einer Parodontitis.
2) In den Zahnfleischtaschen bilden die Bakterien einen BIOFILM. Diese schleimähnliche Substanz wird von einigen Bakterienarten hergestellt. Er ist eine eher durchsichtiges und sich leicht an Flächen anhaftendes Material ( Mukopolysaccharid). Die darin lebenden Bakterien werden, ob sie mit (Aerobier) oder ohne (Anaerobier) Sauerstoff leben, geschützt. Innerhalb dieses BIOFILMs sind sie für das menschliche Immunsystem nicht erkennbar. Somit werden sie nicht angegriffen. Auch alle nur in der Mundhöhle anwendbaren chemischen oder pharmazeutischen Substanzen haben gegen den BIOFILM keinen dauerhaften Erfolg.
3) Das Leben aller Bakterien wird durch die für sie optimale Körpertemperatur des Menschen, das reichhaltige Nahrungsangebot und das von der amerikanischen Mikrobiologin Bonnie Basler und anderen entdeckte „Quorum sensing“ bestimmt. Dieser Begriff deutet an, dass die Bakterien bisher (?) 2 Möglichkeiten haben sich zu orientieren:
- a) „Ich und wir“: durch das Aussenden und das Erkennen einer nur für ihre eigenen Art spezifischen „Markers“ (ein Peptid) werden eigene Artgenossen in der Umgebung erkannt. Ab einer gewissen Anzahl an Artgenossen um sie herum, beginnen Bakterien ein Programm abzuspulen. Dieses kann gut (z.B. Herstellung von Vitaminen) oder schlecht (z. B. Gifte) für den Menschen sein.
- b) „Ich und die Anderen“: durch die Aussendung eines allgemeinen „Markers“ erkennen sie, ob und wieviele fremde Bakterien sie umgeben. Das „Quorum sensing“ (ich und die anderen) verhindert über lange Jahre hinweg, die explosive Vermehrung einzelner Bakterienarten. Durch die „Quorum sensing“- Steuerung werden größere Entzündungen, die einen Besuch beim Zahnarzt erforderlich machen würden, am Ort des BIOFILMS sehr lange erfolgreich unterdrückt.
4) Durch die Begrenzung des Raumes in der einzelnen Zahnfleischtasche, wird über lange Jahre eine große Menge an Bakterien in den menschlichen Körper abgegeben. Von dem BIOFILM selbst geht keine Aggressivität aus. Die aus dem BIOFILM austretenden Bakterien zwingen das Immunsystem zu Aktivität. Durch diese Aktivität werden Knochen und andere Strukturen eingeschmolzen/vernichtet und so kann sich die Tasche und damit der BIOFILM ausdehnen.
5) So ist das Immunsystem jahrein, jahraus beschäftigt. Im langjährigen Verlauf einer Parodontitis, die Taschen werden tiefer, erreichen einzelne Bakterienarten über das „Quorum sensing“ die Quantität (ich /wir, ich/die anderen) zum Anwerfen ihrer „Programme“ (!). Da jede Tasche für sich ist, sind solche Entzündungen zu Beginn oft sehr begrenzt. Es wird daher oft auch nur lokal behandelt. Nur selten ist das der Anlaß, den Gesamtzustand des Zahnfleisches zu diagnostizieren.
6) Mittels Parodontitis – Sonde ist die Taschentiefe meßbar. Später zeigen sich auch Veränderungen des Knochens im Röntgenbild.
7) Das wiederum heißt, dass schon beim Jugendlichen regelmäßig die Taschentiefe routinemäßig (ev. mittels eines standardisierten Messgerätes, möglichst ohne Einfluss des Behandlers auf die Messung!) erfasst und in einer persönlichen Datenbank festgehalten werden sollte. Denn nur so werden kleinste Veränderungen über die Programmierung sofort erkannt und es kann Alarm gegeben werden! Auch eine Forderung der Europäischen Federation of Periodontology (EFP)!
8) Durch die Vergrößerung der Taschen und damit der dreidimensionalen Zunahme des BIOFILMS (28 Zähne mit mindestens 4 Seiten (einzelne Taschen oder konfluierende Taschen) und mit Taschentiefen von 3 bis 6 und mehr Millimetern ergeben sich unendliche Möglichkeiten für Bakterien. Hinzu kommt eine optimale Temperatur und ständiges Nahrungsangebot. Durch die Bildung des BIOFILMs sind die Bakterien optimal vor Angriffen chemischer oder anderer Art geschützt.
9) Für den Menschen ist die permanente Freisetzung von Bakterien in den Körper das zentrale Ereignis: Bakterien können sich unter guten Bedingungen alle zwanzig Minuten teilen. In 3 Stunden sind so aus 1 Bakterium 511 geworden. In 5 Stunden sind es bereits 32767. Und so weiter und so weiter über Tage , Wochen, Jahre und Jahrzente. Keiner bekämpft diese „Brutstätten“. Und wenn doch eine Erstbehandlung durch einen Zahnarzt erfolgt, dann kann sich der BIOFILM regenerieren. Weil kein „RECALL“ oder „UPT“ erfolgt. Dazu später mehr!
a) Hierdurch wird das Immunsystem über Jahre und Jahrzehnte hinweg belastet. Und je älter der Patient wird, desto tiefer werden die Taschen. Mengenmäßig nimmt also der BIOFILM dreidimensional zu. Die Zahl der ins menschliche System gelangenden Bakterien wird so größer und größer.
b) 706 verschiedene Bakterienarten(Microbiome of the oral, Dewhirst und andere) werden millionenfach über Jahre und Jahrzehnte, Tag für Tag, Stunde für Stunde Minute für Minute in unser System geschwemmt.
Die Anzahl der bisher (!) mit der Parodontitis verbundenen Erkrankungen sind vielfältig:
Schlaganfall 3x so häufig (Dörfer; 2004)
Herz/Kreislauferkrankungen 2x so häufig
Hinzu kommen eine Reihe von wirklich schweren Erkrankungen:
Rheumatoide Arthritis (sehr ausführlich dargestellt von K.Albrecht in der ZM; Heft 12/2015; Seite 26-28)
Chronische Nierenkrankheit (CKD) (Salimi; 2010)
Pankreaskrebs (Michaud; 2007);
Brustkrebs (Freudenheim; 2015);
Dysphagia (Ortega; 2014);
OSA (P. Famili; 2015)
Pankreaskrebs (Michaud; 2007);
Brustkrebs (Freudenheim; 2015);
Dysphagia (Ortega; 2014);
OSA (P. Famili; 2015)
Anämie (Balakevasan; 2013)
Frühere Sterblichkeit (Tramini et al. ;2007)
Diabetes
Frühgeburten
Fertilität von Mann und Frau
Dickdarmkrebs (Fusobacterium)?
Hinzu kommen Entzündungen an künstlichen Gelenken und an im Munde eingesetzten Implantaten. Bei letzteren haben wir schon eine Periimplantitisprävalenz von über 50 Prozent!
- Doch nur wenige Spezialisten für obige Krankheiten ziehen bei ihrer Differentialdiagnose einen Parodontologen zu Rate.
c) Viele der in den menschlichen Körper geschwemmten Bakterien werden durch das Immunsystem erkannt und vernichtet. Aber einzelne schaffen es, irgendwo vor Ort zu bleiben. Sei es, dass sie hinter einer kleinen Schwellung oder Vernarbung zur Ruhe kommen. Andere kommen dazu, bilden zum Schutz den klebrigen (sticky), sich wunderbar anhaftenden BIOFILM. Und fertig ist ein neuer Produktionsort für Bakterien.
10) Zur Bekämpfung dieses seit Jahrtausenden fantastisch funktionierenden Systems (von Seiten der Bakterien!) gibt es bisher nur die Möglichkeit, den in den Zahnfleischtaschen vorhandenen BIOFILM mechanisch durch entsprechend entwickelte Instrumente (Scaler und Curetten, Ultraschall, Pulverstrahl) zu beseitigen. Die Wirksamkeit dieser Methode haben Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten bewiesen, aber auch Tausende von zumindest im Bereich des Mundes gesunde Menschen.
11) Die nur langsame Entwicklung einer Parodontitis (heimliches „Anschleichen“ wird es auch mal genannt!) gäbe dem Menschen genügend Zeit die Krankheit gründlich zu behandeln. Aber das Gegenteil ist der Fall. Diese langsame Entwicklung kommt einigen Eigenschaften des Menschen entgegen:
- a) „ alles auf die lange Bank schieben“: eine einzelne entzündete Tasche? Einmal oder zweimal zum Zahnarzt. Keine Beschwerden mehr? Alles in Ordnung! Von der professionellen Seite her ist das ähnlich: Parodontitis-Behandlung (ohne Dentalhygienikerin!) braucht viel Zeit für Aufklärung und auch Verhaltensänderung des Patienten durch den Zahnarzt. Das mechanische Säubern der Taschen ist zeitaufwendig und für den Zahnarzt nicht so recht lukrativ. In der Zeit kann er ein Implantat setzen oder eine Brücke anfertigen.
Welcher Patient will schon Taschentiefen-Messung und ev. Röntgen, wo er doch gesund ist!
Aber: je früher man den BIOFILM beseitigt oder verhindert (!) umso geringer der Aufwand und auch der Schaden.
- b) „was uns die „Oberen“ sagen, ist erst Mal richtig“: die Zahnärztevertreter in Deutschland, Frankreich und Österreich machen uns glauben, dass oberhalb des Zahnfleisches durchgeführte „Professionelle Zahnreinigungen (PZR)“ durch zahnmedizinische Prophylaxeassistentinnen (ZMP) oder zahnmedizinische Fachassistentinnene (ZMF) zur Verhinderung oder Eindämmung der Parodontitis geeignet sind.
- Interessant ist, dass 25 Länder mit 400 000 Dentalhygienikerinnen mit der Spezialausbildung für tiefe und tiefste Taschen das völlig anders sehen.
Die in der Tiefe der Taschen lebenden Bakterien, eingebettet in den BIOFILM, sehen das sehr locker: sie vermehren sich!
2006 wird die Deutsche Mundgesundheitsstudie DMS IV1 veröffentlicht:
„Die Daten der bevölkerungsrepräsentativen Studie zeigen, dass Parodontalerkrankungen weit verbreitet sind und seit 1997 eher zugenommen haben.
Unter den Erwachsenen (Alter 35-44 Jahre) leiden 52,7% unter mittelschweren und 20,5% unter schweren Formen der Parodontitis. Bei den Senioren (Alter 65-74 Jahre) sind 48,0% von einer mittelschweren und 39,8 % von einer schweren Erkrankung betroffen.
- Damit ist man von den für 2020 gesteckten Zielen noch weit entfernt.“
- Nochmals zusammengefasst:
- In der Altersgruppe (35 – 44) sind 73% oder drei von vier Patienten an einer mittelschweren bis schweren Parodontitis erkrankt!
- Bei den Senioren (65 – 74) sind 88% oder 4 von 5 Patienten an einer mittelschweren bis schweren Parodontitis erkrankt!
1 DMS IV, Micheelis W., Schiffner U., Institut der deutschen Zahnärzte, IDZ Materialreihe Band 31, Deutscher Ärzte Verlag, 2006